Die Art und Weise, wie wir in einer modernen, postindustriellen Welt denken, ist durch zunehmende begriffliche Abstraktion gekennzeichnet. Die wissenschaftliche Methode hat unsere Welt verändert, und sie hat die Art und Weise verändert, wie wir tagtäglich über die Welt denken. Piaget nannte dies die formal-operationale Phase: Wir denken, indem wir abstrakte Konzepte losgelöst von realen Beispielen handhaben. Das war unseren nicht allzu fernen Vorfahren völlig fremd, wie Experimente in abgelegenen Dörfern in der Sowjetunion am Rande der Industrialisierung gezeigt haben.
Abstraktion ist allgegenwärtig: Während das Wort „Prozent“ noch vor 100 Jahren fast nirgendwo auftauchte, taucht es heute etwa bei jedem 5000sten Wort in einem durchschnittlichen englischen Text auf und macht 0,02 Prozent aller Wörter aus.
In gewisser Weise sind wir zum abstrakten Denken gezwungen: Wir leben in einer Welt, wie sie unsere evolutionären Vorfahren nicht kannten, und es sind vor allem unsere Fähigkeiten zum begrifflichen Denken, die versuchen, mit der Schnelligkeit Schritt zu halten, mit der sich unsere Umwelt verändert, und in welche Art von digitalen, wissensbasierten Bereichen sie sich verlagert. Aber das ist keine triviale Aufgabe. Unsere Gehirne sind nicht dafür optimiert, rational und objektiv zu sein: Wikipedia listet rund 200 kognitive Verzerrungen auf, psychologische Muster, bei denen unsere Wahrnehmung die Realität verzerrt und uns von einem rationalen Urteil abhält.
Das falsche Vertrauen in Zahlen
Zahlen drücken unser Wissen über die Welt aus: Da dieses Wissen aber notwendigerweise probabilistisch ist, werden Größen in der Bayes’schen Statistik statt durch einzelne Zahlen durch Wahrscheinlichkeitsverteilungen (die wie in der obigen Grafik eine Glockenkurve sein können) dargestellt. Die Breite der Verteilung gibt den Grad der Gewissheit unserer Schätzung an. Der höchste Punkt des Diagramms ist unsere beste Schätzung (der Mittelwert der Gaußschen Kurve), aber wenn die Verteilung sehr breit ist, sagt uns unsere beste Schätzung nicht viel.
Wie dieser sehr ausführliche Blick auf unsere möglichen Maßnahmen dagegen erklärt, gibt es sehr viele Unbekannte, wenn es um Covid-19 geht, und zu viele unbekannte Unbekannte, um irgendwelche Zahlen mit zu viel Vertrauen zu verwenden (es erklärt auch, warum starke Maßnahmen im Moment unsere beste Politik sind, weil sie uns Zeit verschaffen, ein klareres Bild zu bekommen).
Dieses Diagramm ist um die Welt gegangen und stammt aus einer am Wochenende veröffentlichten Arbeit von Neil Ferguson et al. am Imperial College London veröffentlicht wurde.
Abgesehen davon, wie wichtig ihre Botschaft ist (sie führte zu politischen Änderungen in den USA und im Vereinigten Königreich), ist die Art und Weise, wie das Diagramm die Kurven darstellt, irreführend. Welche impliziten Parameter sind in die Simulation eingeflossen und wie groß sind ihre Vertrauensintervalle? Die Auswirkungen des Wetters/verschiedener sozialer Distanzierungsmaßnahmen/sozialer Struktur/aufkommender Behandlungen sind allesamt ungewiss, und keiner dieser Faktoren wurde durch empirische Studien ermittelt, sondern sind bisher nur Vermutungen.
Wie Jeremy Howard in seiner praktischen Zusammenfassung der Covid-19-Situation sagt, sehen diese Kurven zwar erschreckend aus, aber die Fehlerbalken um sie herum könnten fast so groß sein wie die Kurven selbst.
Der Ungewissheit trotzen
Fazit: Es mag schwer sein, angesichts der Ungewissheit ruhig zu bleiben, aber es steckt eine gewisse Weisheit darin.
Bei Politikern wird die Anerkennung der Ungewissheit leider oft als Zeichen der Schwäche ausgelegt. Deshalb denke ich, dass es die Aufgabe der Wissenschaft ist, zu betonen, welche Rolle sie bei der Bewertung der Geschehnisse spielt, was dies für die Maßnahmen bedeutet, die wir ergreifen sollten, und warum diese Ungewissheit einer der besten Gründe dafür ist, dass wir mehr Zeit brauchen, um sie durch eine strengere, wissenschaftliche Bewertung des Virus langsam zu überwinden und dann über die beste langfristige Strategie zu entscheiden.
Wir haben gerne Zahlen, an denen wir uns festhalten können, wenn die dunkle Wolke der Pandemie über unseren Köpfen schwebt. Aber bevor klarere Fakten auftauchen, bevor die Weltgemeinschaft die Situation besser im Griff hat, ist es besser, der Ungewissheit zu widerstehen, als die Fakten zu verewigen, um uns in Sicherheit zu wiegen, oder uns im anderen Extrem in eine Panik zu versetzen, die daher rührt, dass wir besser zu wissen glauben, was vor sich geht, als wir es wirklich tun.