Beziehungen zwischen Chemosensorik, Essverhalten, Lebensmittelauswahl und anderen gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen interessieren Forscher seit langem auf vielen Gebieten (z. B. Fischer et al. 1963; Kang et al. 1967; Kaplan et al. 1964; Pangborn und Simone 1958). Tatsächlich waren die Chemosinne im Vergleich zum Sehen und Hören keine „niederen“ Sinne, sondern boten einen fruchtbaren Boden für integrative, translationale und transdisziplinäre Forschung (z. B. Barker 1982; Kare und Maller 1967), lange bevor es in Mode war, von Forschung in diesem Sinne zu sprechen. Ein Paradebeispiel ist die Arbeit von Kaplan und Kollegen, die einen Zusammenhang zwischen genetischen Unterschieden in der Geschmackswahrnehmung und dem Tabakkonsum nachwiesen (Kaplan et al. 1964). Zu den weiteren bahnbrechenden Arbeiten in diesem Bereich gehört eine wahrhaft epische Studie von Pangborn & Simone aus dem Jahr 1958: Nachdem sie die Süßigkeitsvorlieben bei echten Lebensmitteln von mehr als 12 000 Personen erhoben hatten, konnten sie keinen Zusammenhang mit der Körpergröße feststellen (Pangborn und Simone 1958), was darauf hindeutet, dass die vermeintliche Rolle des süßen Zahns bei der Fettleibigkeit ein Mythos sein könnte, auch wenn er heute noch umstritten ist. In der Tat haben spätere Arbeiten zur Aufnahme und Vorliebe für Süßigkeiten eher fette als süße Lebensmittel mit dem Adipositas-Risiko in Verbindung gebracht (z. B. Drewnowski et al. 1985; Macdiarmid et al. 1998).
Angesichts dieser reichhaltigen Geschichte setzt diese Sonderausgabe von Chemosensory Perception die Erforschung der Zusammenhänge zwischen menschlicher Chemosensorik und Gesundheit in einem breiten Spektrum von Bereichen fort und hebt dabei spezifische Implikationen für Chemosensorik-Forscher, Gesundheitsdienstleister sowie das öffentliche Gesundheitswesen hervor. Vier der Artikel in dieser Sonderausgabe sind gezielte Übersichten, die ein breites Spektrum von Themen im Bereich Chemosensorik und Gesundheit abdecken, während die übrigen zwei Artikel Originalforschungsartikel sind, die neue Daten enthalten.
Übermäßige Natriumaufnahme ist eine Bedrohung für die öffentliche Gesundheit in der entwickelten Welt. Die Hauptquelle für Natrium in der Nahrung stammt aus den verarbeiteten Lebensmitteln selbst und wird nicht am Tisch oder beim Kochen hinzugefügt (James et al. 1987; Mattes 1990). Dementsprechend veröffentlichte das US-amerikanische Institute of Medicine (IOM) vor fünf Jahren einen Leitfaden (IOM 2010), in dem eine schrittweise und heimliche“ Reduzierung des Natriumgehalts in Lebensmitteln als Mittel zur Verringerung der Gesamtnatriumaufnahme empfohlen wird, da man davon ausgeht, dass sich die Verbraucherpräferenzen mit der Zeit dahingehend ändern werden, dass der Natriumgehalt in der Ernährung reduziert wird. Wie Nuala Bobowoski in ihrem Beitrag hier (Bobowski 2015) hervorhebt, wurde diese Annahme jedoch nie direkt getestet. Der Artikel von Nuala Bobowoski gibt einen kurzen Überblick über das, was über die Entstehung von Salzpräferenzen, die Rolle früherer Erfahrungen und die Lücken im aktuellen Wissensstand in Bezug auf unsere Fähigkeit, Salzpräferenzen im Laufe der Zeit zu verändern, bekannt ist.
Die Veränderungen der sensorischen Funktion und die Verschiebungen der Lebensmittelpräferenzen, die mit einer Krebsbehandlung einhergehen, sind jedem bekannt, der selbst eine Behandlung durchgemacht oder ein Familienmitglied dabei beobachtet hat, zumindest anekdotisch. Leider ist die Ausbildung, die Onkologen und andere Angehörige von Gesundheitsberufen in chemosensorischer Biologie und Psychologie erhalten, oft sehr oberflächlich, was den Willen des Patienten beeinflussen kann, diese notwendigen, aber schwierigen Behandlungen durchzustehen. Der zweite Artikel in dieser Ausgabe ist ein Expertenkommentar über Chemosensorik und Sensorik im Kontext der Krebsbehandlung (Boltong und Keast 2015). In diesem Kommentar stellen zwei Experten auf ihrem Gebiet – Anna Boltong und Russell Keast – einleitend fest, dass Leistungserbringer im Gesundheitswesen häufig durch die von Chemosensorik-Forschern verwendete Terminologie und den Fachjargon verwirrt sind (z. B. Geschmack versus Aroma). Vielleicht noch kritischer ist die Feststellung der Autoren, dass diese Verwirrung im klinischen Umfeld noch dadurch verstärkt wird, dass es nicht gelingt, echte Veränderungen der sensorischen Funktion von affektiven oder hedonistischen Veränderungen zu unterscheiden, die bekanntermaßen mit der Krebsbehandlung einhergehen. Um diese Verwirrung zu beseitigen, liefern sie zunächst klare Definitionen von Kernkonzepten, bevor sie zwei theoretische Rahmenwerke vorstellen, die Klinikern helfen sollen, relevante Themen zu konzeptualisieren. Um das chemosensorische Wissen in die Klinik zu übertragen, betonen sie die Bedeutung von Selbstauskünften der Patienten in Verbindung mit gezielten Fragen, um dem Arzt zu helfen, das spezifische Problem zu isolieren, damit die Bedürfnisse des Patienten angemessen berücksichtigt werden können. Sie betonen auch die Notwendigkeit einer guten antizipatorischen Beratung durch den Arzt, damit der Patient den Krebsbehandlungsprozess erfolgreich bewältigen kann.
Der dritte Artikel in dieser Ausgabe befasst sich mit einem Problem, mit dem sich viele von uns, selbst diejenigen, die tagtäglich in der Chemotherapie arbeiten, wahrscheinlich noch nicht beschäftigt haben. Donna Scarborough und Cathy Pelletier befassen sich mit der Rolle der Chemosinne in Bezug auf das Schlucken und Schluckstörungen (Scarborough und Pelletier 2015). Sie geben zunächst einen Überblick über die komplexe Abfolge von Ereignissen, die dem Schlucken zugrunde liegen – ein Vorgang, den die meisten von uns als selbstverständlich ansehen -, bevor sie sich mit den Veränderungen im Laufe des Lebens befassen. In Bezug auf die Übersetzung stellen sie fest, dass chemisch-ästhetische Stimuli wie Kohlensäure oder konzentrierte Zitronensäure für die Schlucksicherheit bei Personen mit Dysphagie förderlich zu sein scheinen; leider werden diese Stimuli von diesen Personen schlecht vertragen, was ihren Nutzen einschränkt. Wie die Autoren anmerken, sind die bisherigen Arbeiten auf diesem Gebiet relativ begrenzt, und es gibt noch viel zu lernen.
Scharfe Gewürze werden in vielen Küchen der Welt in großem Umfang konsumiert, und das Interesse an Gerichten, die diese Gewürze enthalten, hat in den westlichen Ländern in den letzten zwei Jahrzehnten stetig zugenommen. Neben ihrer wichtigen Rolle für den Geschmack von Lebensmitteln (Rozin 1983) wird nun deutlich, dass viele dieser Gewürze selbst bioaktiv sein können (z. B. (McCrea et al. 2015), mit dem Potenzial, Gesundheit und Sterblichkeit zu beeinflussen (Lv et al. 2015). Im vierten Artikel dieser Ausgabe befassen sich Mary-Jon Ludy, Robin Tucker und Sze-Yen Ten mit der Rolle von scharfen Gewürzen bei der Regulierung der Nahrungsaufnahme (Ludy et al. 2015). Wie es angesichts des Umfangs dieser Ausgabe nur angemessen ist, beschränken sie sich auf Arbeiten am Menschen, die ein gewisses Maß an oraler oder nasaler Exposition beinhalten, und schließen Studien aus, bei denen die Gewürze eingekapselt sind oder auf andere Weise daran gehindert werden, chemosensorische Reaktionen auszulösen. Da scharfe Gewürze die Aufnahme potenziell verstärken oder unterdrücken können, behandeln sie in ihrer Übersicht beide Fälle, wobei sie mit dem ersten beginnen. Innerhalb jedes Abschnitts liefern sie detaillierte Zusammenfassungen, die betonen, was bekannt ist und hervorheben, wenn dieses Wissen und die klinische Praxis nicht übereinstimmen.
Jedes Jahr wird die National Health and Nutrition Examination Survey (NHANES) von den Centers for Disease Control and Prevention an einer landesweit repräsentativen Stichprobe von fünftausend frei lebenden Personen im Alter von Geburt bis 80+ Jahren durchgeführt. Diese Bemühungen gehen auf die erste NHANES-I-Studie zurück, die zwischen 1971 und 1975 durchgeführt wurde, mit Folgestudien von 1976 bis 1980 und 1988 bis 1994 (NHANES II bzw. III). Seit 1999 wird die NHANES-Studie kontinuierlich durchgeführt und liefert eine demografisch gewichtete Momentaufnahme des Gesundheits- und Ernährungszustands von Erwachsenen und Kindern in den Vereinigten Staaten. In der aktuellen NHANES-Studie werden die Daten durch Befragungen zu Hause und durch eine mobile Untersuchungseinrichtung mit geschultem medizinischem Personal erhoben. Die erhobenen Daten umfassen demografische, sozioökonomische, ernährungs- und gesundheitsbezogene Fragen sowie ärztliche und zahnärztliche Untersuchungen, Ernährungsbefragungen und Labortests. Nach langjährigen Bemühungen unter der Leitung von Howard Hoffman und Barry Davis von den National Institutes of Deafness and Communications Disorders und unter der Anleitung vieler anderer Experten auf diesem Gebiet hat das NHANES-Team die im mobilen Untersuchungszentrum durchgeführten Tests um eine Geschmacks- und Geruchskomponente (http://www.cdc.gov/nchs/data/nhanes/nhanes_13_14/Taste_Smell.pdf) erweitert. Im fünften Artikel dieser Sonderausgabe beschreiben Valerie Duffy und ihr Team an der UConn in Zusammenarbeit mit Howard Hoffman die Ergebnisse einer laborgestützten Validierungsstudie des NHANES-Protokolls für Geschmack und Geruch bei einer Stichprobe von Erwachsenen. Sie kommen zu dem Schluss, dass das Untersuchungsprotokoll, obwohl es sich um eine kurze Screening-Maßnahme für die Datenerhebung auf epidemiologischer Ebene handelt, Daten liefert, die mit umfangreicheren Labortests übereinstimmen, und eine angemessene Test-Retest-Zuverlässigkeit über einen Zeitraum von sechs Monaten aufweist. Da die neueste Welle von NHANES-Datensätzen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, kann die Einbeziehung gültiger, objektiver chemosensorischer Tests nur dazu beitragen, die Erforschung neuer Beziehungen zwischen Chemosensorik, Ernährung und allgemeiner Gesundheit zu erleichtern.
Der letzte Artikel in dieser Sonderausgabe enthält Originaldaten aus meinem Labor an der Penn State, mit Alissa Allen Nolden als Hauptautorin. Obwohl die Zusammenhänge zwischen den Chemosinnen und dem Alkoholkonsum, -missbrauch und -missbrauch seit langem untersucht werden (Kang et al. 1967; Mattes und DiMeglio 2001; Peeples 1962), entdeckten wir eine überraschende Lücke in der Literatur, als wir nach Berichten über die Veränderung der Wahrnehmungsqualität von Ethanol bei Konzentrationen suchten, die ökologisch relevant für alkoholische Getränke sind. Anhand einer Stichprobe von Erwachsenen, die nicht alkoholabstinent sind, konnten wir zeigen, dass Ethanol zwar gleichzeitig bitter, brennend und süß ist – wie jeder weiß, der schon einmal einen puren Wodka getrunken hat -, dass aber die vorherrschende Empfindung je nach Konzentration erheblich variiert, wobei die Bitterkeit bei niedrigeren Konzentrationen überwiegt, während das Brennen bei höheren Konzentrationen dominiert. Darüber hinaus deuten diese Daten darauf hin, dass die selbst angegebene Häufigkeit des Alkoholkonsums außerhalb des Labors mit individuellen Unterschieden in der Empfindung von reinem Ethanol (im Gegensatz zu alkoholischen Getränken, die auch andere sensorisch aktive Komponenten enthalten) zusammenhängt. Diese Arbeit trägt zu einer wachsenden Zahl von Belegen dafür bei, dass Unterschiede in der Chemosensibilität den Alkoholkonsum (Dotson et al. 2012; Duffy et al. 2004; Hayes et al. 2011) und möglicherweise den Missbrauch (Pelchat und Danowski 1992) unterschiedlich beeinflussen können.
Abschließend möchte ich der Chefredakteurin der Zeitschrift, Jeannine Delwiche, herzlich dafür danken, dass sie mir die Möglichkeit gegeben hat, als Gastredakteurin für diese Sonderausgabe zu fungieren, da mir dieses Thema sehr wichtig ist. Außerdem möchte ich den Autoren aller hier enthaltenen Artikel sowie den anonymen Gutachtern, die diese Artikel geprüft haben, herzlich danken. Ich kann nur hoffen, dass diese Sonderausgabe zusätzliches Interesse an der Übertragung der Chemosensorik aus dem Labor in die Klinik und in den Bereich der öffentlichen Gesundheit weckt.
Gruß!
John E. Hayes